Montag, 25. Juni 2012

Verloren



Der Club ist vollkommen überfüllt und die Musik dröhnt so laut durch den alten Bunker, dass der Boden bebt. Die Wände sind bunt besprayt, Aufkleber gegen Nazis und Kommerz wurden wahllos über Plakate von verschiedenen Bands aus vergangenen Nächten geklebt. Wir stehen zu zweit an der Kasse und warten, bis Naty, eine schlanke, gepiercte junge Frau mit unzähligen Tattoos am ganzen Körper, sich zwischen den Leuten zu uns durchgeschlängelt hat. Um uns zu umarmen, muss sie sich zu uns herunter beugen, so groß ist sie. Ich kenne sie kaum, ich sehe sie nur ab und zu in dem Piercingladen in der Innenstadt arbeiten. Sie ist etwa acht Jahre älter als wir, vielleicht 24.
Jessi, mit der ich hergelaufen bin, fragt sie, ob wir "so" reinkommen. Die Türsteher gucken doof, aber Naty winkt uns, wenn auch skeptisch durch und brüllt Jessi gegen die laute Musik zu, wir sollen auf uns aufpassen. Mindestalter ist eigentlich 18. Und eigentlich kostet die ganze Sache mit Freibier und neun ganz ordentlichen Bands, die die ganze Nacht durchspielen, nur fünf Euro, aber Jessi besteht immer darauf, dass wir unsere Sonderbehandlung bekommen.
Die Luft brennt und der Boden klebt. Auf der Tanzfläche pogen die Punks, die Bar im hinteren Teil des Clubs platzt wegen des Freibiers aus allen Nähten. Ich werde von tausenden Leuten begrüßt und setze mich zu der buntgemischten Gruppe von Freaks, unter denen ich meine besten Freunde habe, während Jessi sich zu den wenigen Goth gesellt. Hier treten vor allem Punk- und Hardcorebands auf, deshalb hängen die meisten Goth in der Dark-Kneipe in der Innenstadt ab.
Ich will mir gerade ein Bier holen, da sehe ich dich. Du sitzt in unserer Nähe und hast neben dir ein rothaariges Mädchen, welches dich bewundernd ansieht. Sie ist älter als ich und wahrscheinlich auch älter als du. Die Eifersucht überrumpelt mich. Plötzlich will ich erstmal doch kein Bier mehr, ich befürchte nämlich, dass ihr euch gleich küssen werdet.  
So ein hohler Gedanke, nur, weil du mich geküsst hast, ziehst du das doch nicht mit jeder anderen durch. Du bist und bleibst jemand, der niemals Menschen verletzen würde, die er gern hat. Auch wenn du immer so kalt wirkst. Außerdem würdest du deine Freundin nicht noch einmal betrügen, wo du sie doch schon mit mir betrogen hast und es dir für uns beide so Leid tut. Auch wenn ich seit dieser Nacht nur noch Luft für dich bin...
Scheiße, wenn du sie jetzt küsst, geh' ich zu dir und hau' dir eine rein. Ist mir egal, dass sich dann alle Anderen ihren Teil denken. Sie werden sowieso nicht darauf kommen, was passiert ist. Das traut man uns beiden nicht zu.


Natürlich kommt es nicht zu einem Kuss. Du siehst mich kurz an, ich schaue im richtigen Moment weg und tue so, als würde ich über einen der extrem schlechten Witze eines besoffenen Kumpels lachen, der sich langsam aber sicher Hoffnungen bei mir macht und bekomme aus dem Augenwinkel mit, wie die Rothaarige sich aus dem Staub macht, weiß der Teufel warum. Ist doch ganz normal, dass du dich auch mal ohne Weiteres mit einer weiblichen Person unterhältst. Wie bescheuert bin ich eigentlich. Du stehst auf und gehst, ohne mich zu beachten, an mir vorbei. Welch eine Überraschung. Dachte ich tatsächlich, dass du nach einem Monat Ignoranz plötzlich wieder bei mir antanzt? Fuck.
Einige Bierflaschen später bin ich mal wieder die Attraktion auf der Tanzfläche, da ich zum Glück ganz gut tanzen kann, es auf dieser Welt leider genug Idioten gibt, die mir hinterher rennen und ich (auch leider) nicht viel mehr als die meisten jungen Leute vertrage. Der Bassist holt mich unter dem übertriebenem Gekreische einiger Freundinnen, die zwar älter sind als ich, aber alkoholisiert um einiges jünger wirken, neben sich auf die Bühne. Er interessiert mich nicht wirklich, niemand interessiert mich in Wahrheit, ich suche mit den Augen zwischen den ganzen Gestalten, Iros, Nietengürteln und Springerstiefeln nach deinem Gesicht.
Ich will eine Reaktion von dir sehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche, dich eifersüchtig zu machen, wie ich hoffe, dass du siehst, wieviel Kerle mir nachlaufen.


Die will ich alle nicht. 


Ich will dich, weil du so kalt bist, weil du der erste warst, der nicht gleich an mir hing wie eine Klette, dem es gleichgültig zu sein schien, was ich tat. Der erste, der genauso abweisend zu mir war, wie er es zu allen anderen war. Der erste, der erst auftaute, als er mich besser kennenlernte, der mich nicht aufgrund meines Aussehens, sondern meines Charakters mochte. Der erste, der den Spieß einfach umdrehte, dem ich hinterherlief.


Ich entdecke dich rechts von der Bühne. Du hängst mit deinem Handy einsam auf einer Couch rum, deine Gesichtszüge sind bitter und ich kann nicht wirklich einschätzen, ob alles wie immer ist, oder ob du über mich nachdenkst.
Kurz nach vier hau' ich ab. Irgendwie habe ich realisiert, dass ich kam, weil ich hoffte, dich hier anzutreffen. Weil ich hoffte, du würdest mir endlich alles erklären. Hundert Fragen mehr, keine neuen Antworten. Plus weitere dreissig Leute, die jetzt meine Handynummer haben und mich nerven können. Das ist das Ergebnis dieser Nacht.


Wer hat hier wen verloren?

nicht fair


Ich denke an dich. Die ganze Zeit.
Erinnere mich an jedes einzelene deiner Worte, frage mich, ob sie für dich überhaupt einen Sinn ergaben.
Erinnere mich an deine Berührungen, frage mich, ob sie für dich eine Bedeutung hatten.
Erinnere mich an die Nacht vor einem Monat, frage mich, WAS ZUR HÖLLE WAR DAS FÜR DICH, WAS?!
Sehe dir dabei zu, wie du mich seitdem ignorierst und dich mit allen Mitteln von mir fernzuhalten versuchst. 
Frage mich, was du fühlst. 
Frage mich, ob deine Freundin immer noch nicht davon weiß. 
  Was bist du?

Groß.
Schön. 
Kalt.
Hass.
Launisch.
Lieb. 
Intelligent.
Arschloch.